Andere Länder, andere Sitten
Vor einigen Jahren ist ein Freund von mir auf die Philippinen ausgewandert. Bei einem seiner ersten Besuche hier in Deutschland hat er davon erzählt, wie „anders“ das Zusammenleben dort funktioniert und gab ein paar Anekdoten zum Besten. Letztendlich erging es ihm so, wie jedem von uns, wenn er/sie in eine andere Kultur eintaucht – die dort gelebten Werte und kollektiven Haltungen springen einem sozusagen ins Gesicht. Wir sind mit unserer Gesellschaft und unseren Werten vertraut, deswegen kommt es uns bei uns „normal“ vor und wir staunen manchmal, wenn Dinge in anderen Ländern komplett anders funktionieren. Wir sind betriebsblind für unser Wertesystem.
Wir handeln entsprechend unseren Werten
Nur kurz als Erklärung: Werte sind erstrebenswerte Vorstellungen, die einzelnen Personen oder Gruppen wichtig sind. Unser Handeln ist (meist unbewusst) darauf ausgelegt, diese Vorstellungen zu erreichen, d.h. Werte sind handlungsleitend. Jede Gruppe und jede Gesellschaft hat sich (unbewusst) auf gewisse Werte geeinigt. Wenn man überlegt, für welche Werte Deutschland steht – leicht zu erkennen daran, wofür wir im Ausland bekannt sind – kommt man wahrscheinlich schnell auf Werte wie Pünktlichkeit, Erfolg, Fleiß, Genauigkeit, Ordnung und Sicherheit. Für uns ist das wie gesagt normal. Spätestens wenn man einmal in Südamerika war – oder auch schon Südeuropa – merkt man, dass diese Werte dort nicht so sehr gelebt werden. Pünktlichkeit hat in Brasilien oder Süditalien z.B. einen geringen Wert, während Lebensfreude oder Genuss dort hoch im Kurs stehen. Diese spielen wiederum bei uns eine geringere Rolle. Andere Werte, anderes Handeln!
Welchen Wert hat Familie bei uns?
Warum erzähle ich das? Unser Freund berichtete unter anderem, dass auf den Philippinen der familiäre Zusammenhalt völlig anders sei als bei uns. Zum Beispiel sei es ganz normal, dass im Falle, dass die Mutter krank oder pflegebedürftig wird, der älteste Sohn bei ihr bleibt, um sie zu pflegen. Ich musste mir sofort vorstellen, wie das hier in Deutschland ist. Und im Ernst: meine Vorstellungskraft versagt dabei, dass ein erfolgreicher Unternehmer oder ein Vorstandsvorsitzender eines Konzernes zu Hause bleibt, um seine Mutter zu pflegen! Und da bin ich sicher nicht die Einzige. Das scheint bei uns unvorstellbar. Dass eine erfolgreiche Frau ihren Job aussetzt, um ihre Mutter zu pflegen, kann man sich schon eher vorstellen. Und das hat mit unseren Werten zu tun! Auf den Philippinen hat Familie oder Mutterschaft offensichtlich mehr wert als der Erfolg des Sohnes.
Bei uns dreht sich alles um erfolgreiche Männer
Vielleicht stimmt die Anordnung nicht in jedem Detail, wobei ich mir aber sicher bin ist, dass alte Menschen, vor allem alte Frauen mit wenigen Ausnahmen ganz unten stehen, dass unsere Kinder in der kollektiven Wertepyramide in Deutschland unten stehen, dass Mutterschaft wenig wert ist und dass Erfolg und vor allem der erfolgreiche Mann oben steht und sich deshalb alles an ihm orientiert. Man nennt das auch Androzentrismus. Und wenn sich unsere Gesellschaft am Mann orientiert – und zwar am erfolgreichen – ist es ja auch kein Wunder, dass sich alle anderen in das für ihn erschaffene System quetschen müssen – ob es passt oder nicht. UND es passt oft nicht: 40 Stunden-Woche und Familie – passt nicht. Das Anforderungsprofil zur Karriere ist für Menschen ohne soziales Engagement gestrickt, oder für jemanden, der soziales Engagement deligiert. Diese Aussage ist sicherlich kompromittierend. Wenn wir den Tatsachen aber nicht ins Auge sehen, können wir nichts ändern. Was mir noch sehr wichtig ist: damit ist nicht gesagt, dass Männer zwangsweise glücklich sind in diesem System. Für manche ist es sicher völlig normal, dass sie im Mittelpunkt unserer Gesellschaft stehen. Andere, vor allem für Männer, die vielleiht auch mal mehr Zeit mit der Familie verbringen wollen, bekommen die Konsequenzen der Abwendung vom „erfolgreichen Mann“ jedoch zu spüren. Und das ist unser gesellschaftliches Wertesystem. Unsere persönlichen Werte können ganz anders priorisiert sein. Für fast alle Menschen, die ich kenne, sind ihre Kinder und ihre Familie am Wichtigsten! Das hat wiederum zur Konsequenz, dass wir in einen Werte-Konflikt kommen – unsere persönlichen Werte sind nicht kongruent zu unseren gesellschaftlichen Werten.
Kinder bedeuten oft sogar sozialen Abstieg
Für mich war es erschreckend zu erkennen, wie weit unten Kinder und alte Menschen in unserer gesellschaftlichen Anerkennung stehen, und auch Mütter. Wenn wir ehrlich sind, ist es jedoch die Realität. In einer Gesellschaft, in der Kinder an der Spitze der Wertepyramide stehen würden, würden alle Ressourcen für deren Wohl eingesetzt werden: Es gäbe bestens ausgestattete Schulen und Kindergärten. Riesige Spielplätze, Firmen würden die Arbeitszeiten an Eltern anpassen. Es wäre eine Ehre, einen Job zu haben, in dem man mit Kindern zu tun hat und gut bezahlt wäre er noch dazu. Jede Geburt würde gefeiert werden, die Bedürfnisse von Kindern hätten Vorrang. Wenn der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank sagen würde: „ich muss auf mein Kind aufpassen und kann daher nicht am Meeting teilnehmen.“ würde sich niemand wundern sondern man würde ihn unterstützen. Frauen würden Anerkennung bekommen für die gesellschaftliche Leistung, die sie mit Erziehung und Pflege erbringen und so weiter und so weiter …
Doch davon sind wir weit entfernt. Vor mir ist auf jeden Fall niemand auf die Knie gefallen, um sich für die Geburt und die Erziehung von drei Menschen zu bedanken. Das Gegenteil ist eher der Fall. Familien mit Kindern sind finanziell schlechter gestellt, verlieren Einkommen, müssen viele Kosten tragen und steigen sozial eher ab als auf. Und dass Frauen unter Männern stehen, also weniger wert sind, sieht man auch an allen Ecken und Enden, nicht zuletzt an der schlechteren Bezahlung bei gleicher Stellung und Leistung. Letztendlich ist diese Wertewelt das Ergebnis von mehreren tausend Jahren Patriarchat, das sich zwar langsam aufweicht, aber sich noch lange nicht auflöst.
Welche Werte wollen wir in Zukunft gemeinsam leben?
Ich habe die Vision einer egalitären Gesellschaft, in der es gar keine Werte-Pyramiden mehr gibt, sondern alle Menschen gleichwertig sind. Kein Oben oder Unten, sondern Augenhöhe! Gleichwertig ist für mich etwas anderes als gleichberechtigt. Die gleichen Rechte haben alle Menschen bei uns – zumindest meistens – den gleichen Wert aber eben nicht. Gleichberechtigung hieß meiner Meinung nach bis jetzt, dass Menschen nach den bestehenden Spielregeln „mitspielen“ durften, die Männer irgendwann für Männer aufgestellt haben. Aber ich habe die Vision von Gleichwertigkeit bei Unterschiedlichkeit. Denn ja, Menschen sind unterschiedlich! Und den Versuch, alles gleich zu machen und Gleichheit als oberstes Ziel zu definieren, finde ich persönlich schwierig. Wäre es nicht viel inspirierender, jeder Mensch dürfte anders sein und wir würden uns trotzdem alles gleichwertig fühlen können? Wäre dann die Definition, was man ist – weiblich, männlich oder divers, deutsch, ausländisch, hell- oder dunkelhäutig – nicht viel weniger bedeutend, weil jeder Mensch uns gleichviel wert wäre?
Brauchen wir eine Werte-Revolution?
Wenn wir das erreichen wollen, reicht es nicht aus wie bisher, innerhalb des bestehenden Systems nach Optimierungsmöglichkeiten zu suchen. Wenn wir das ändern wollen, brauchen wir eine grundlegende Wertediskussion. Welche Werte wollen wir nach vorne stellen, mehr in den Fokus nehmen, welche Werte haben wir bitterlich vernachlässigt und welche Menschen zahlen den Preis dafür. Wir müssten unser Wertesystem auf den Kopf stellen und damit das daraus resultierende und uns vertraute Systeme hinterfragen. Was es bedeuten würde, Kindern mehr Wert einzuräumen, habe ich schon angedeutet: Mehr Geld für Kinder, vielleicht Lohnfortzahlung für Mütter und Väter, die sich um Kinder kümmern – egal in welcher Konstellation. Steuererleichterungen nicht für Ehepartner, sondern für Investitionen in Kinder und vieles mehr wäre denkbar.
Was würde es bedeuten, wenn wir Familie über Erfolg stellen? Was, wenn wir in der Ökonomie Nachhaltigkeit wirklich vor Wachstum stellen würden. Dann würde die Wirtschaft darum wetteifern, nicht das noch neuere Produkt, sondern das langlebigste auf den Markt zu bringen? Was würde es bedeuten, wenn wir Gemeinschaft vor persönlichen Wohlstand stellen würden? Es lohnt sich, mal darüber nachzudenken. Ich für mich kann ganz klar sagen, ich habe keine Lust mehr auf Optimierung innerhalb eines Systems. Ich wünsche mir einen Aufbruch, ich wünsche mir eine Werte-Revolution.