Die Schuld der Frau.

Vor einigen Jahren ist mir auf einer Party folgendes passiert: alle waren ziemlich angetrunken und ein Freund von uns – verheiratet, drei Kinder – ruft mich beim Namen. Ich drehe

Vor einigen Jahren ist mir auf einer Party folgendes passiert: alle waren ziemlich angetrunken und ein Freund von uns – verheiratet, drei Kinder – ruft mich beim Namen. Ich drehe mich zu ihm um und er umarmt und küsst mich. Ich drehe mich leicht überfordert schnell aus der Umarmung, lächle ihm verlegen zu und gehe weg. Soweit so gut, nichts passiert. Solch übergriffige Situationen kennt jede Frau – ich habe schon schlimmeres überlebt. Dummerweise steht seine Tochter in unmittelbarer Nähe und hat alles gesehen. Das Drama, das sich daraus entsponnen hat, kann man sich glaube ich vorstellen.

Dann ist etwas passiert, womit ich nicht gerechnet hatte: Der Kuss ist im Freundeskreis natürlich Thema. Alle machen sich Sorgen um die arme Ehefrau, den armen Typen – aber mit mir spricht keiner. Kein Anruf von jenem Freund danach oder irgendwann, keine Entschuldigung; mein Mann schmunzelt leicht stolz auf seine „tolle Frau“ und findet es gar nicht so schlimm. Als ich meine beste Freundin darauf anspreche, sagt sie: „Naja, er wird dich schon nicht vergewaltigt haben.“ Nachdem ich meine Kinnlade wieder hochgeklappt habe, frage ich, wie sie das meint, und sie sagt: „Du wirst schon irgendwie mitgemacht oder dazu beigetragen haben.“ Aha! So ist das also. Ich trage also Mitschuld. Kein Wunder, dass keiner mit mir darüber redet.

Einige Monate später – und das ist tatsächlich wahr und nicht erfunden – gibt es wieder eine Party. Diesmal passiert folgendes: Der Mann meiner besten Freundin sitzt auf dem Sofa, alle sind erneut angetrunken. Da setzt sich eine Frau auf den Schoß dieses Mannes und küsst ihn. Gleiche Situation wie bei mir, nur andersrum. Und jetzt? ALLE regen sich über die unmögliche Frau auf und sind ganz bei dem armen Mann, der so überrumpelt wurde. KEINER zieht eine Mitschuld des Mannes in Betracht, dass er sich vielleicht erotisch auf dem Sofa geräkelt habe oder nach Moschus gerochen hat. NEIN, die Schuld liegt allein bei der Frau. So ist es. Die Frau ist schuld. In diesem Moment wird mir sonnenklar, dass das eine tiefe, wenn auch unbewusste, Überzeugung in unserer Gesellschaft ist.

Woher kommt diese Überzeugung?

Die unhinterfragte, systemische und gleichzeitig alltägliche Schuld der Frau ist im Patriarchat fest verankert. Die Frau wird durch das Patriarchat abgewertet und entmachtet. Die einzige weibliche Macht, die Mann nie ganz kontrollieren konnte und kann, war und ist die Macht der weiblichen Anziehung – und das fühlte und fühlt sich für Männer anscheinend gefährlich an. Etwas, dessen Mann sich nicht entziehen kann und das Mann nicht in den Griff bekommt, muss böse sein. Durch die Geschichte zieht sich diese Ansicht wie ein roter Faden – beginnend bei Adam und Eva bis ins Jetzt.

Adam und Eva – Was war da nochmal?

Die Geschichte von Adam und Eva ist wohl einer der bekanntesten Teile des Alten Testaments. Eva wird von der Schlange überzeugt, einen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen und reicht diesen an Adam weiter, der ebenfalls davon isst. Aufgrund dessen werden beide – also die gesamte Menschheit – aus dem Paradies verbannt und zu einem Leben in Leid und Sünde verdammt. Eva trägt Schuld am Leid der Menschheit. Die Frau wird mit der Erbsünde belegt und muss fortan fürchterliche Qualen bei der Geburt erleiden.

Schauen wir uns die Symbole aus einem matriarchalen, kritischen Perspektive genauer an. Die Schlange ist in vielen jungsteinzeitlichen Kulturen bis zur Patriarchalisierung ein Symbol des Lebens und der Wiedergeburt. Durch ihre Häutung steht sie für Verwandlung, für Tod und Wiedergeburt, für den Kreislauf des Lebens. Der Apfel ist die Frucht des Lebens, der Apfelbaum der Lebensbaum. Beide Symbole werden im Patriarchat komplett umgedeutet. Die Frau ist nicht mehr verbunden mit Wiedergeburt und gibt das Wunder des Lebens weiter, sondern Sexualität wird zu Verführung und zu Schuld, die bitter bestraft wird.

Der rote Faden

Diese Schuld zieht sich durch die Jahrtausende. Mit der Patriarchalisierung müssen Frauen aller Weltreligionen sich verhüllen, ihr Haar bedecken, ihren Ausschnitt, die Schultern, die Knie oder alles. Im Judentum müssen Frauen ihr Haar in der Synagoge verdecken, um den Mann nicht abzulenken. Im muslimischen Raum müssen sich Frauen komplett bedecken oder zumindest das Haar. Alleine die Tatsache, dass Frau einen Körper hat ist schon Verfürhung und Sünde. Das Christentum hat es mit der Verteufelung der Sexualität auf den Gipfel bis zur Hexenverbrennung getrieben. Sexuelle Anziehung der Frau wurde direkt mit Hexerei und dem Bündnis mit dem Teufel gleichgesetzt, komplett abgewertet und fürchterlich geahndet. Jahrtausende wurden Frauen bestraft, sogar wenn sie vergewaltigt wurden! Erst 1997 wurde in Deutschland die Vergewaltigung in der Ehe strafbar.

Was ist heute?

Es gibt sie auch heute: die absurde unbewusste Überzeugung, dass Frauen per se schuldig sind und Sexualität böse ist und beides hängt fatal zusammen. Noch heute werden Frauen für sogenannte sexuelle Vergehen bestraft, geschlagen, gesteinigt oder geschändet. Noch immer werden Frauen zumindest mitverantwortlich gemacht für sexuelle Übergriffe. Die Fragen, welche Kleidung eine Frau bei einer Vergewaltigung getragen hat, wird bei jedem neuen Fall öffentlich diskutiert. Die Antwort ist einfach: Ausstellungen und Studien zeigen es. Frauen haben Jogginghosen, Brautkleider, Schlafanzüge, Röcke, Hosen, Kleider oder sonst irgendetwas getragen. Es gibt keinen Zusammenhang. Es ist egal, was Frauen tragen, der Gedanke, dass der Körper der Frau dem Mann gehört oder er einen gewissen Anspruch auf ihn und auf Sex hat und dass die weiblich sexuelle Anziehung ungehörig, böse und verführend ist, wird immer noch im Handeln von Männern, in Argumenten der Justiz und der Täter sichtbar.

Was können Die Verteufelung der Sexualität tun?

Sex muss heimlich und schmutzig sein. Auch das ist eine Konsequenz dieser radikalen Abwertung der Frau und ihrer Erotik. Die geringe Rolle der Frau in der Sexualität und der patriarchale Anspruch des Mannes auf den Körper der Frau wird durch die Erniedrigung der Frau in der Pornografie zu Absurdität. Sexualität ist omnipräsent und für Frauen immer noch gefährlich. Obwohl es in jeder zweiten Werbung sexuelle Anspielungen gibt, müssen Frauen aufpassen: Der Ruf ist schnell ruiniert und sie sind entweder Schlampen oder prüde. Der Grad der Anständigkeit ist schmal für Frauen und es ist nach wie vor gefährlich, ihn zu verlassen. Die schlimmsten Beschimpfungen für Frauen sind nach wir vor sexueller Natur. Die Frau aus Objekt sexueller Begierde des Mannes hat auch im „normalen“ Sexualverhalten Konsequenzen. Der Mann mit seinem Orgasmus und Phantasien steht in der Regel im Mittelpunkt sexueller Handlungen. Weibliche Sexualität ist wenig bekannt und/oder nicht wichtig.

Es wird Zeit!

Es wird Zeit, dass wir neue Glaubenssätze etablieren: Der Körper der Frau gehört der Frau und er ist heilig. Sexualität ist natürlich und eine Vereinigung auf mehreren Ebenen. Die freie Sexualität der Frau ist ein Geschenk für alle. Das wären echte Alternativen. Und es wird Zeit für weibliche Sexualität.

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