Wir leben nicht mehr wie unsere Großeltern!
Unsere Gesellschaft verändert sich. Wie wir unser Zusammenleben gestalten, welche Rituale wir dazu wählen, welche Werte und Prioritäten wir teilen und wie wir uns organisieren ist Veränderungen unterworfen. Im Moment sind wir an einem Punkt besonders starker gesellschaftlicher Veränderung, da wir grundlegende scheinbar selbstverständliche Übereinkünfte in Frage stellen oder die dafür gewählten Rituale nicht mehr funktionieren. Vor allem Gemeinschaftsformen, die teilweise über einen sehr langen Zeitraum unantastbar waren, wie zum Beispiel kirchliche Feste, Ehe, die traditionelle Kleinfamilie, politische Strukturen etc. funktionieren aktuell immer weniger. Das Wertesystem unserer Eltern und Großeltern passt nicht mehr für uns. Wir hingegen sind auf der Suche nach neuen Werten und der Möglichkeit der Manifestierung, der Umsetzung dieser aktuellen Werte.
Die Hierarchie, die seit mehr als 5000 Jahren DIE Organisationsform unserer Kultur ist, egal ob in Unternehmen, im Staat, im Militär oder in der Familie. Einer hat immer mehr Macht als andere, findet immer weniger Anhänger*innen. Wir sind auf der Suche nach neuen Möglichkeiten des Miteinanders.
Schauen wir gemeinsam über den Tellerrand
Um die Dimension der aktuellen Veränderung zu verstehen, ist es hilfreich sich eines dieser Beispiele zu nehmen und sich vorzustellen, ob dies vor 100, vor 500 oder vor 1000 Jahren möglich gewesen wäre. Die Ehe oder Hierarchien in Frage zu stellen zum Beispiel hätte in jedem der genannten Zeiträume sicher für die Einzelperson kein gutes Ende genommen (von wenigen Ausnahmen abgesehen). Heute haben wir die Möglichkeit, alles auf dem Prüfstand zu stellen und zu hinterfragen.
Diese Veränderungen zeigen Auswirkungen auf vielen Ebenen: In persönlichen Beziehungen, in Unternehmen, in der Politik, in der Religion/Spiritualität. Um Veränderung bewusst mit gestalten zu können, müssen wir die Hintergründe für den aktuellen Gesellschaftswandel untersuchen. Wieso und was genau passiert gerade hier bei uns?
Kaum jemand weiß, dass es verschiedene Gesellschaftsformen gibt.
Eine plausible Erklärung ist, dass seit ca. 40 bis 50 Jahren patriarchale Strukturen in unserem Kulturkreis langsam lockern. Aber was bedeutet Patriarchat?
Patriarchat – wörtlich übersetzt „Väterherrschaft“ – beschreibt eine Gesellschaftsform, in der dem Mann eine bevorzugte Stellung in Gesellschaft und Familie zukommt und man erkennt es zum Beispiel an folgenden Merkmalen:
• Es gilt die Patrilinearität, d.h. die Verwandtschaft, Erbfolge und Namensgebung definiert sich über den Stammbaum des Vaters
• Der Wohnsitz junger Paare ist bei den Eltern des Vaters bzw. die Frau geht zum Mann (u.U. auch in dessen Eigentum über), die sogenannte Patrilokalität.
• Es herrscht Androzentrismus. Der Mann ist gesellschaftliches Zentrum und steht oben auf der Wertepyramide, dies wird auch materiell sichtbar und Machtposition werden über Geschlechtszugehörigkeit zugeordnet.
• Die Gottesbilder sind männlich, es gibt einen dominierenden männlichen und evtl. sogar alleinigen, transzendenten Gott.
Betrachtet man diese Merkmale wird klar, wir leben in Deutschland in einem Patriarchat, wenn auch nicht mehr so deutlich erkennbar wir noch vor 50 Jahren. Und weltweit gesehen dominieren Patriarchate deutlich.
Persönliche Entwicklung und Werte sind nie unabhängig von der Gesellschaft, in der wir leben.
Das Patriarchat geht einher mit der Ordnung der Hierarchie und beides begann sich – gleichzeitig mit der Idee persönlichen Besitztumes – Ende der Jungsteinzeit zu entwickeln. Das heißt, Patriarchate und Hierarchien waren für einen sehr langen Zeitraum der klare Orientierungsrahmen unserer Gesellschaften – und das natürlich mit entsprechenden Konsequenzen. Diese Konsequenzen und damit auch die Ordnung werden gerade in Frage gestellt. Und wie bei jedem Umbruch stehen Ängste und Chancen, Krisen und Möglichkeiten direkt nebeneinander. Um diesen Ängsten und Zweifeln vorzubeugen und weil wir aber auch noch keine neuen etablieren Formen (z.B. für Zusammenleben und Gemeinschaft) haben, braucht es eine Vision.
Es gibt Vorbilder, um eine Vision für unsere Gesellschaft zu entwickeln
Wie wollen wir zusammenleben in privaten Beziehungen? Welche Aufgabe erfüllt die Ehe eigentlich noch? Sind „Führung auf Augenhöhe“, „Team- und Stärkenorientierung im Job“ Alternativen zur jetzigen Organisationsstrukturen und wie geht es mit der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau weiter? Welche Formen von Spiritualität und Riten finden wir, wenn die Ideen unserer monotheistischen Religionen nicht mehr greifen und wie wird sich Politik in Zukunft organisieren, wenn es immer weniger Parteimitglieder gibt und die Politikverdrossenheit steigt?
Sich diesen Fragen bewusst zu stellen und Antworten zu gestalten, neue Formen des Zusammenlebens und Organisationsformen zu finden, neue Werte zu etablieren und neue Rituale zu zelebrieren, das ist die Aufgabe unserer Generationen – und es ist eine große und großartige Aufgabe!
Martina Engel-Fürstberger